Thomas Behling

Thomas Behling. Das könnte Sie auch interessieren. GaDeWe

Dr. Rainer Beßling
Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Das könnte Sie auch interessieren. " in der GaDeWe – Galerie des Westens Bremen, 30. Oktober 2020


Vor 12 Jahren fand die letzte Einzelausstellung von Thomas Behling in Bremen statt. Lediglich in Gruppenausstellungen war der nach Berlin umgesiedelte Künstler hierzulande noch präsent. Aus der Ferne ließ sich verfolgen, dass er in zahlreiche Themenausstellungen mit kritischem Gegenwartsbezug national und international eingebunden war. Ein neuer Solo-Auftritt in der Stadt, in der Behling 2006 sein Kunststudium abschloss, in der er sich erstmals öffentlich zeigte und zu deren Kunstszene er immer noch gehört, war also überfällig.

Die Schau hier in Walle ist repräsentativ, weil sie die über Jahre entwickelte ästhetische Strategie des Künstlers widerspiegelt. Sie ist aber auch dezidiert aktuell, weil sie ein zentrales Gegenwartsthema fokussiert, das Behling inzwischen offensiv in seiner Arbeit behandelt: die Klimaproblematik und die damit verknüpften politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt ethischen Fragen. Schon zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn, als er noch naturalistische Landschaften malte, war Behling mit Umweltfragen befasst, ohne dass dies seinen Werken direkt ablesbar war. Gesellschaftspolitisch motivierte Kunst ist formal eine heikle Gratwanderung. Schnell wird ein Bild zur Illustration der Haltung. Genau das will Behling nicht. Er möchte das Werk sprechen lassen, ohne dass er selbst den Mund aufmacht. Inzwischen hat der Künstler die Sprache dazu gefunden, wie man in dieser Ausstellung erkennen kann.

Für die Präsentation wurden Arbeiten ausgewählt, die in Bremen noch nicht zusehen waren. Dennoch: Allen, die sein Werk kennen, werden die Exponate nicht fremd vorkommen. Sie wirken wie alte Bekannte, echte Behlings eben, und transportieren damit schon das, was der Künstler zum Thema macht: eine bisweilen nostalgisch anmutende Vertrautheit, hinter der aber Fallstricke, Fakes, Verschiebungen und Verfremdungen wirken. Vermeintliche Überbleibsel einer früheren Zeit leiten geradewegs in Krisen und Konfliktzonen der Gegenwart. In der Aufdeckung des Scheins entdeckt der Betrachter die in ihm selbst wirksamen Täuschungen und Illusionen. Im Dialog mit dem Werk wird er auf seine eigene Wahrnehmung gelenkt.

Das neueste, zugleich programmatische Werk der Ausstellung trägt einen merkwürdigen Titel: „Die Moral von der Geschichte verstehe ich mitnichte“. Das klingt altertümlich, lässt vielleicht an Wilhelm Busch denken. Und auch das Objekt selber wirkt in seiner gedrechselten Bauweise und hölzernen Materialästhetik historisch. Es erinnert an Urnenschränkchen oder Tabernakel. Als vermeintliches Behältnis von sterblichen Überresten und Reliquien verweist es auf Ritual, Kult und sakralen Kontext, an Überlebtes und Abgelegtes. Das Ganze hat Patina angesetzt, seine Aura hallt aber noch kräftig nach. Die Erscheinung als historisches Relikt ruft das Gedächtnis und das geschichtliche Bewusstsein des Betrachters auf. Als konstruiertes Dokument der Vergangenheit lässt es über den Umgang mit der Überlieferung nachdenken.
Mit dem greifbaren Objekt verbindet sich der titelgebende Satz, der als Schriftband um das Kästchen läuft. „Die Moral von der Geschichte verstehe ich mitnichte“. Das wirkt in seinen zentralen Begriffen und in dem bemühten Reim wie aus der Zeit gefallen und von der Zeit überrollt: Moral, was war das noch mal?
„Geschichte“ - wurde nicht unlängst das Ende der Geschichte ausgerufen, sind wir nicht in der Allmacht von Demokratie und Marktwirtschaft ohne einen Widerpart im Sinne der Hegelschen Dialektik angekommen? Haben wir nicht das Erbe als ideologischen Ballast von unserem Aktualitätswahn und unserer Zukunftshysterie abgeschält? Haben wir uns nicht mit der Entlarvung überkommener Bewusstseinsschlacken von der Tradition befreit? Und sind wir nicht so mit den gegenwärtigen Aufgaben und den Herausforderungen des galoppierenden Wandels, der Hyperkomplexität und der Ich-Überfrachtung beschäftigt, dass für das Frühere weder Zeit noch Interesse bleibt?

In dem Schränkchen befindet sich ein aufrechter Unterarm. Die Hand weist nach oben. Der Zeigefinger ist abgeschnitten, wird aber von der Hand in die Höhe gereckt. Ein erhobener Zeigefinger steht traditionell für einen mahnenden Appell, für einen Wink auf Werte, die sich aus lehrhaften Ereignissen und Erzählungen ablesen lassen: die Moral von der Geschichte als Erzählung und der Geschichte
als Historie lässt sich verstehen oder eben nicht. Als Geste ist der Zeigefinger lange schon verpönt. Bereits die Aufklärung stemmte sich gegen ein Moralisieren, das Kirchen und weltliche Herrscher zur Festigung ihrer Macht nutzten, und setzte auf Vernunft gründende Werte dagegen. Die Revolten und Rebellionen der Moderne führten die Befreiung des Individuums aus den Maßregelungen der Autoritäten und den Zwängen der Konventionen fort. Allerdings: Die protestantische Ethik wirkt als Disziplinierung der „freien“ Marktakteure munter weiter.

Der abgetrennte Zeigefinger steht für den Cut mit dem Regime der disziplinierenden Wertediktatur. Vielleicht auch dafür, dass sich der Künstler selbst jede Moralisierung versagt? Aber wofür steht das Aufrichten des amputierten Fingers? Eine Reanimierung der mahnenden und warnenden Geste? Der Finger zeigt an die Decke des Schränkchens, an der sich eine malerische Darstellung der Weltkugel befindet. Die Erde hat sich darin ziemlich verändert. Frankreich und Deutschland haben große Fjorde, von den Niederlanden ist kaum mehr etwas übrig, die Krim liegt in der Mitte des Schwarzen Meeres. Das Bild ist eine Projektion in eine mögliche Zukunft nach der Schmelze fast aller Eismassen infolge einer nicht gestoppten Erderwärmung. Der Meeresspiegel ist um 60 Meter gestiegen, weite Erdmassen sind überspült oder abgetragen.

Behlings Miniatur-Malerei an der Decke des Objekts lässt an historische Bilder des Firmaments denken. Der Himmel galt als Ursprung der Wetter und als Sitz der Götter, jener Mächte also, denen der Mensch dem alten Glauben entsprechend ausgeliefert war. Es gibt die Meinung, dass der Klimawandel eine Naturerscheinung sei. Das Gros der Wissenschaftler aber betrachtet ihn als menschengemacht.
Schon mit seinem ersten Auftreten in der Geschichte hat der Mensch die Welt den biblischen Erzählungen zufolge ruiniert. Mit seinen anhaltenden und zunehmenden Eingriffen in die Natur trägt er nun auch die Verantwortung für sie. Keine himmlischen Mächte, nur er kann die drohende Katastrophe abwenden.
So ist der gereckte abgeschnittene Zeigefinger keine Wiederbelebung eines überholten Moralisierens, sondern eher der Wink auf die Notwendigkeit eines ethischen Fundaments, auf dem die Entscheidungen über die Zukunft basieren sollten. Ethik hat es nicht leicht. Man denke nur an die unsägliche Vokabel des „Gutmenschen“. Die lange dominierende Philosophie des Dekonstruktivismus setzte mit ihren Attacken gegen das Ideologiegepäck und durch den Verweis auf den Konstruktionscharakter der Wirklichkeit das entfesselte Individuum auf den Thron. In der akribischen und obsessiven Suche nach dem Gehalt des Scheins blieb das Streben nach einer Wahrhaftigkeit, die auf Konsens beruht, auf der Strecke. Die Entlarvung von Ressentiments führte geradewegs in die Relativierung der Werte. Wirklichkeit und Wahrheit wurden zur Ansichts- und Verhandlungssache zwischen Individuen und Gruppen mit je eigenen und konkurrierenden Wertevorstellungen. Das funktioniert nur in einem vernünftigen und demokratischen Diskurs. Doch davon gibt es aktuell immer weniger.

Versteht und schultert aber der Einzelne die Verantwortung, die Geschichte und Gegenwart auf seine Schultern gelegt haben? Ist die heute dominierende Gesellschaftsform, mit der die Geschichte vermeintlich ihr Ende genommen hat, ethisch gefestigt und mit der parlamentarischen Praxis der Entscheidungsfindung in der Lage, die dringlichen Umweltprobleme zu lösen, oder bedarf es wie in der Pandemie einer durch den Ausnahmezustand legitimierten Autokratie, um das Klimaruder herumzureißen? In einer Arbeit greift Behling die strategische Perspektive auf, die unter marktwirtschaftlich orientierten deutschen Führungskräften und Politlagern weit verbreitet ist: „Innovation und Technologie“ ist ihr Titel. Das Wortpaar geht auf einen Kommentar von Bundeskanzlerin Merkel zum Auftritt von Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen zurück. Dort habe die Klimaaktivistin genau das vergessen: Innovation und Technologie. Gerade darin läge die Chance für eine klimaneutrale Umwandlung der Wirtschaft. Behling hat unter diesem Titel einen Glaskasten gebaut, der hinter einer angegilbten Pappe an der Front ein technisches Innenleben offenbart, wie zahlreiche andere seiner Objekte auch. Auf der Pappe, die sich wie eine riesige Projektionsfläche oder auch als Trennwand verstehen lässt, ist ein Fleck, in dem mit etwas Fantasie der Umriss eines Ufos zu sehen ist, ein schönes Spiel mit der Fiktionalität des Merkel-Einwands. An dieser Stelle blinken energisch zwei bunte Lichtpunkte, Enden von zwei Glasfasern, ein ganzes Büschel leuchtet im Innern des Kastens. Die Glasfaser meldet sich bunt blinkend als Signatur der segensreichen digitalen Zukunft, teilt den Rückraum der Vitrine allerdings mit dem Bild einer verdorrten Erde und der gekippten schwarz-weißen Fotografie einer Landschaft mit Kleinstadtsiedlung.
Wem nutzt die Digitalisierung? Schon die Globalisierung bringt dem Gros der Bevölkerung nur einen höchst überschaubaren Nutzen. Technologie hat es schon immer geschafft, ihre eigene Dynamik und Rationalität zu etablieren und den Menschen gezwungen, seine Ethik der technischen Entwicklung und instrumentellen Vernunft anzuschmiegen. Wertschöpfung rangiert zweifelsfrei über einer Wertorientierung. Was über Innovation und Technologie relativ sicher gesagt werden kann, ist, dass sie in Produktivität, Finanzkraft und Macht umgemünzt werden kann. Wer in ihnen per se gesellschaftlichen und erst recht ökologischen Nutzen identifiziert, argumentiert ideologisch. Erst ganz langsam greifen die Anreize für eine ökologisch basierte Innovation und Technologie. Nicht auf die Ethik Einzelner kommt es an, sondern auf die von Unternehmen.

Vielleicht passt dazu das ironisch betitelte Bild „Weitsicht“, in dem das historische Porträt eines Mannes von einem schwarzen Ballen überlagert wird. Am Fuß des Bildes findet sich ein Farbverlauf in Gestalt von Nike-Streifen oder Häkchen. Oder auch die Arbeit „Bessere Zeiten dämmern“, in der schon das Titelwort „dämmern“die Ambivalenz der Prognose beinhaltet: Sprechen wir von der Morgenröte künftigen Fortschritts oder von dem aktuell siechen Dämmerzustand eines besseren Heute?

Nicht nur in diesen Zeiten der Pandemie, sondern auch im Zusammenhang mit der Klimakrise steht die Rolle der Wissenschaft im Fokus der Öffentlichkeit. Forschung hat nicht nur ihre eigene Sprache und agiert nicht nur nach eigenen Fragen und Gesetzen, die eine eigene Wirklichkeit schaffen. Sie wirkt auch massiv auf unser Weltbild und damit auch auf unser Wertesystem ein, vor allem in der popularisierten Vermittlung ihrer Ergebnisse. Behling hat dazu ein prägnantes Objekt geschaffen.
„Das Weltall in Farbe“ ist ursprünglich ein schmales Taschenbuch aus dem Jahr 1982 von Joachim Herrmann. Astronomische Objekte sind darin „in Farbe fotografiert“, wie es im Untertitel heißt. Über die Farbe des Weltalls gibt es unterschiedliche Auffassungen, von weißlich braun oder grünlich ist die Rede, abhängig von der Betrachterperspektive. Bei weiterer Zunahme der schwarzen Löcher dürfte sich das alles eher verdustern. Smartiesfarben wie im Buch und wie von Behling in seiner ironischen Buchplastik verstärkt, sind allerdings pure Augenwischerei. Sollen sie uns das Weltall attraktiv machen für einen mal möglichen und nötigen Umzug auf andere Planeten?

Auch in „We have the power. We make a brave new world!“ oder in „Taste of Bounty“ markiert Behling Projektion und Ideologie, Schein und Propaganda. „Wehave the power...“ setzt großformatig einen exotischen Palmenstrand ins Bild, auf den eine bildfüllende Wolkenwand zurollt, die in dieser Größe unrealistisch ist. Sowie die Wetterformation eine Projektion ist, sind auch diese Inseln getränkt mit Zuschreibungen des Idyllischen und Paradiesischen. Viele von ihnen wird der Klimawandel ausradieren. Das Bild trägt Spuren, als habe es in einer Baustelle gestanden. Wir könnten dem ablesen, dass wir uns diese Paradiese, ohnehin Produkte unserer Fantasien in kitschigsten Formen und Farben, selbst bauen und demolieren. Zu „Innovation und Technologie“ gesellt sich Selbstüberschätzung.

Die Frage der Ethik verknüpft Behling nicht nur mit Ökologie, Ökonomie und Technologie. Immer wieder geht es bei ihm auch um das Bewusstsein von Geschichte, um die Erinnerung als Input für die Identität und als Navigation für das Handeln. In der Arbeit „Deutsche Kolonien“ finden sich Fruchtaufkleber aus aller Welt auf einem historischen Sammelbogen für Briefmarken der deutschen Kolonien. So wie derartige Sammelalben meist nicht in den vorgefertigten Rastern gefüllt wurden, weil nicht alle Briefmarken zu beschaffen waren, verlässt auch das Sortiment der Aufkleber den Radius der ehemaligen Kolonien. Es geht nicht um Deckungsgleichheit, sondern um die Frage nach Parallelen zwischen den kolonialen Strukturen und dem globalen Marktgeschehen als Fortsetzung imperialer Strategien. Es geht um die Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten, um Mechanismen in den Lieferketten und um Ausbeutung der mit der Globalisierung in Abhängigkeit gesetzten Akteure. Darin sind in dieser Arbeit auch Bio- und Fair-Trade-Label mit einbezogen. Ein bisschen weniger Ausbeutung kann noch nicht zufriedenstellen.
„Endlich Frieden mit der deutschen Geschichte" heißt eine Arbeit, die einen Bogen aus dreizehn echten und einer falschen Hitlerbriefmarke in Regenbogenfarben zeigt. Der Regenbogen gilt als Sinnbild des Friedens, als Symbol für die Koexistenz der Unterschiede. In diesem Kontexterfahren der Bogen und der Friedensbegriff eine bitterböse Wendung. Es liegt nahe, an die „Vogelschiss“-Rede des AfD-Granden Gauland zu denken. Behling erläutert seine Arbeit so: „Um diesen Bogen biegen zu können, musste ich lügen. Das ist, was ich von der Geschichtsvergessenheit der Rechten halte.“

Behlings historischen Fundstücken nachempfundene Objekte ebnen Erkenntnis über die Entlarvung von Schein, Täuschung und Verklärung. Der Betrachter begegnet in ihnen dem kollektiven Gedächtnis und seinem individuellen Speicher mit dessen spezifischen Filtern und Verstärkern. Wir verdrängen Geschichte und doch wirken ihre Prägungen stärker und nachhaltiger in uns, als wir uns eingestehen. Aus Geschichtskonstruktionen speisen sich große Narrative, die häufig mächtiger sind als materielle Existenzgrundlagen. Vergebens wäre durchlebt, was wir nicht in Erinnerung behalten würden. Manche Dinge landeten auf der Müllhalde der Geschichte, die wir besser nicht hätten wegwerfen sollen. Geschichte besteht auch aus den uneingelösten Projekten.

2016 war Thomas Behling in der GaDeWe in einer Gruppenausstellung zu sehen, die er zu seinen wichtigsten Auftritten zählt. Sie trug den Titel „Raumprothese“ und thematisierte einen Aspekt, der zentral für Behlings Schaffen ist: den Kontext des Bildes und die Bedingungen seiner Betrachtung (siehe: "Sonnenaufgang auf Lesbos"). Aus der Malerei kommend, hat er den Rahmen mit in das Bild einbezogen und Bilder zu Objekten erweitert. Der Rahmen und das Gehäuse grenzen den dargestellten Raum und den Bildraum vom Betrachterraum ab, trennen und verbinden als Sperre und Schwelle Imagination und Realität. Die materielle Präsenz befördert Wert und Wirkung des Bildes und wird selbst Bild. Die Objekte behaupten einen hohen Realitätsgrad. Gleichen sie Vitrinen, schaffen sie Nähe und Distanz zugleich. Mit der Integration des Betrachterraums in das Bildgeschehen werden die Rolle und Perspektive, der Standort und die Haltung des Rezipienten für das Bildgeschehen und -verständnis thematisiert. Die Arbeit „Raum 6-7“ bietet dem Betrachter in der porösen Mitte der Fronttafel eine kleine Öffnung, durch die er unter Missachtung des sonst üblichen Berührungsverbotes in Ausstellungen einen Blick in das Innere werfen kann. Dort sieht man einen Dachboden in realistischen Tiefendimensionen. Der Künstler hat die Darstellung perspektivisch dem Umstand angepasst, dass nur ein Auge hineinschauen kann. Der damit einhergehende Verlust des räumlichen Sehens ist durch eine illusionäre Tiefe ausgeglichen. Je näher das Auge an die Scheibe rückt, desto mehr Details sind in der Raumminiatur zu entdecken. Das Ganze spielt mit der Dachbodensituation, dem Forscherdrang, den dieser häufig als Lager und Archiv genutzte Raum aufruft, und mit den Entdeckungen, die es dort zu machen gibt. Der Boden ist jedoch eingebrochen, ein Betreten des Raumes wäre gefährlich, genauso wie die Expeditionen in die Vergangenheit Risiken bergen: vor allem das Risiko der Begegnung mit sich selbst.

„Das könnte Sie auch interessieren“ ist der Titel dieser Schau - ein Satz aus dem Regime der Cookies, das die Internetbewegungen in Empfehlungen und Einflussnahmen ummünzt. Damit ist gewährleistet, dass der User wohlig in seiner Blase des Gewünschten und Gewohnten dümpelt. Damit wendet das Medium seine potenziellen Möglichkeiten der Horizonterweiterung in eine Verengung des Blicks. Die wirtschaftlich motivierte Strategie funktioniert auch als Verstärkung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Präferenzen. Das durch die sogenannten Social Media angelegte und beförderte Stammesdenken verbindet sich mit der durch die Präferenzfilter installierten Informationsauswahl. Eine durch die Datenökonomie bestimmte Kommunikationstechnologie mag vieles ermöglichen, nur nicht die Kommunikation selbstbestimmter Dialogpartner. Auch Behling schließt an das Bekannte an, nicht durch die Erhebung personalisierter Daten, sondern durch Anzapfen des kulturellen Gedächtnisses. Anders als die Plattformen des Netzes macht er es dem Publikum aber nicht behaglich in ihren Interessen, Ressentiments und Konventionen, sondern setzt seine pointierten Nadelstiche in diese Blasen. Er beharrt auf Aufklärung durch selbsttätige Erkundung und Entlarvung. Er verkleidet, um Demaskierungen zu ebnen. Er mahnt Ethik an und fordert die Suche nach Wahrheit, nicht als Verhandlungsmasse selbstermächtigter Individuen, sondern als Fundament des gesellschaftlichen Diskurses und Zusammenlebens.

Dr. Rainer Beßling